Familienleben © AdobeStock-Anatoliy Karlyuk Mehr Raum für Langeweile „Mir ist soooooooo langweilig!“ Wenn Kinder so stöhnen, sind viele Eltern sofort mit Spielvorschlägen zur Stelle. Dabei sollte Langeweile nicht immer gleich bekämpft werden. Sie fördert nämlich die Kreativität und ist ein gutes Gegengewicht zum Alltagsstress. Von Anke Breitmaier So wie bei Mia sieht der Alltag vieler Kinder aus: Wenn Mia aus der Schule kommt, muss sie sich beeilen. Nach einem schnellen Mittagessen geht es an die Hausaufgaben. Steht eine Arbeit an, heißt es noch lernen. Danach fährt sie mit dem Fahrrad zum Sportverein und hetzt dann gleich wieder nach Hause. Denn am späten Nachmittag hat sie noch Klavierstunde. Mias Terminkalender kann durchaus mit dem von Berufstätigen mithalten dabei ist sie erst 9 Jahre alt. Häufig sind die Tage von Kindern so durchgetaktet, dass ihnen für das freie Spiel kaum noch Zeit bleibt. Langeweile ist für 6- bis 14-Jährige darum fast ein Fremdwort. Zu den schulischen Verpflichtungen kommen Judokurs und Malwerkstatt, Fußballverein und Hockeyturniere. Daneben Schul- AGs und wichtige Termine, etwa beim Kieferorthopäden. Das kann sich schnell zu einer 40+-Stunden-Woche summieren. Ist da überhaupt noch Platz für Langeweile? Langeweile – was ist das eigentlich? „Ein unangenehm, lästig empfundenes Gefühl des Nicht-ausgefüllt- Seins, der Eintönigkeit, der Ödheit, das aus Mangel an Abwechslung, Anregung, Unterhaltung, an interessanter, reizvoller Beschäftigung entsteht.“ So lautet die Definition aus dem Duden. Man kann entsetzliche Langeweile empfinden, aus Langeweile einschlafen und vor Langeweile sogar sterben. Und man vertreibt Langeweile, wenn sie einen zu sehr plagt. Kein Wunder, dass sie ein so schlechtes Image hat. Dabei ist sie eine Empfindung, die ganz unserer eigenen Interpretation unterliegt. Ob wir uns unwohl fühlen, wenn wir frei von Verpflichtungen sind, keine Pläne haben und nicht von außen berieselt werden, hängt allein von uns ab. Schließlich ist Langeweile eng verwandt mit der Muße, die im Kern bezeichnet, wozu „lange Weile“ führen kann: zu freier Zeit, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht. 4 kinderzeit-bremen.de
Vier Gründe, warum Langeweile für Kinder wichtig ist 1 Langeweile macht kreativ Unverplante Zeit macht erfinderisch. Wird sie nicht mit Angeboten gefüllt, haben Kinder die Möglichkeit, ihre Fantasie „spielen“ zu lassen. Sie denken sich neue Spielideen aus, versinken in ihrer eigenen Vorstellungswelt und nutzen ihr kreatives Potenzial, um sich zu beschäftigen. 2 Langeweile motiviert Aufstehen, Frühstücken, zur Schule gehen, Mittagessen, Hausaufgaben, Hobbys, Abendessen, Zähneputzen, Schlafengehen – im Alltag geht es Schlag auf Schlag. Wer da trödelt, gerät schnell in Zeitnot. Denn eine Struktur ist vorgegeben. Zeiten, in denen kein Termin ansteht, animieren Kinder nicht nur dazu, das zu tun, worauf sie gerade Lust verspüren. Sie motivieren Kinder auch, für sich selbst eine eigene Struktur zu entwickeln und einfach mal so lange an etwas dranzubleiben, wie man will, nicht wie man muss. 3 Langeweile macht selbstbewusst Die Erfahrung, auch ohne Reize von außen, ohne elektronische Geräte oder Freunde etwas mit sich anfangen zu können, ist bereichernd. Kinder lernen dabei viel über sich selbst, über ihre Bedürfnisse und Wünsche, über ihr Zeitempfinden und ihr eigenes Tempo. Das macht unabhängig und selbstbewusst. Denn wer frühzeitig lernt, mit sich gut und gerne allein zu sein, der entwickelt ein sicheres Gespür für die eigene Person. 4 Langeweile entspannt Schön, wenn Kinder viel erleben. Aber die Reizüberflutung kann auch stressen. In langweiligen Phasen kommen die Gedanken zur Ruhe, das Kind kann abschalten, es lernt, sich selbst zu beruhigen. Das ist ein wichtiges Gegengewicht zum Poweralltag. Zudem brauchen Kinder zwischen den Aktivitäten Leerlauf, damit sich Erlebtes und auch Gelerntes setzen und sich die Seele von aufregenden Erlebnissen erholen kann. Einfach mal nichts vorhaben Kinder können sehr gut mehr Langeweile gebrauchen, darüber sind sich Pädagog:innen und Hirnforscher:innen einig. Die britische Entwicklungspsychologin Teresa Belton beispielsweise hat den Zusammenhang von Langeweile und Vorstellungskraft bei Kindern erforscht. Sie kam dabei zum Ergebnis, dass Langeweile für die Entwicklung des kindlichen Gehirns enorm wichtig ist. Ihr zufolge können nur dann „interne Stimuli“ entstehen und wahrgenommen werden, wenn mal Ruhe herrscht und keine Ablenkung da ist. Dann erst wird auch Kreativität möglich. Auch Langeweile will gelernt sein – wer immer in Aktion ist, nie Leerzeiten aufkommen lässt und sich immer von außen anregen lässt, der erfährt nicht, was es heißt, freie Zeit für sich allein zu haben. Klagen Kinder über Langeweile, empfinden Eltern das oft als Vorwurf und als Forderung: Sag mir, was ich tun kann! Wer dann Medienzeit an der Spielekonsole verordnet, sich selbst ins Kinderzimmer setzt, um Ritterburg zu spielen oder seinem Kind tausend Beschäftigungsideen unterbreitet, hält es davon ab, Langeweile zu ertragen, um sie zu nutzen – nämlich als kreativen Freiraum, der den Geist beflügelt. Auch Eltern müssen die Langeweile ihres Nachwuchses „aushalten“ können. Denn bevor die Kinder die unstrukturierte Zeit in etwas Positives verwandeln, kann es durchaus schlechte Laune und Herumgemaule geben. Eltern sollten ihr Kind ernstnehmen, wenn es über Langeweile klagt und die Leere eben nicht ausfüllen. Fragen wie „Was würdest du denn jetzt gerne machen?“ oder „Was wolltest du schon immer mal tun?“ können Kinder dann animieren, selbst herauszufinden, was sie mit sich anfangen können und wollen. Erst so entstehen aus Nachmittagen, die sich ziehen wie Kaugummi, die schönsten Dinge. Erst weiß man nichts mit sich anzufangen, wurstelt nölig an irgendetwas herum und kommt dann plötzlich auf die Idee, der Barbie Kleider zu häkeln, ein cooles Kissenversteck zu bauen oder ein Riesenbild zu malen. Oft reicht es auch, beim Blick aus dem Fenster zu beobachten, wie Regentropfen Muster auf die Glasscheibe malen. Langeweile zu haben bedeutet also eigentlich, Zeit zu gewinnen. Vergehen die Stunden in der alltäglichen Routine wie nichts, halten wir in „langweiligen“ Phasen inne. Das ist eine Chance, achtsamer mit eigenen Ressourcen umzugehen und Aktivitäten nicht abzuhaken, sondern bewusst zu erleben. 5
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